UmweltNachrichten Heft 1/2003 zur Liste | home

Unsere bepelzten, gefiederten und geschuppten Verwandten

Zur Entwicklung des Tierschutzes

Vor einem Jahr, im Mai 2002 ist der Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen worden. Noch vor zwei Jahrzehnten wäre ein solcher Schritt undenkbar gewesen. Gewiss ist diese bedeutsame Entwicklung auch dem beharrlichen Drängen der Tierschutzverbände zuzuschreiben. Doch ohne den Rückhalt in einer Bevölkerung, die für Fragen des Natur- und Umweltschutzes sensibler geworden ist, wäre die Gesetzesänderung wohl nicht denkbar gewesen.

Treibende Kraft für den traditionellen Tierschutz war das Mitleid mit der misshandelten und verachteten Kreatur. Durch das Bewusstwerden der ökologischen Krise wurden neue Bevölkerungskreise für den Tierschutz gewonnen, denn Tiere wurden nun zunehmend als Teil des großen Lebenszusammenhangs wahrgenommen, den es zu erhalten gilt, wenn wir unsere eigenen Lebensgrundlagen nicht zugrunde richten wollen.

Neuere Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Verhaltenskunde und der Neurophysiologie unterstützen ebenfalls den Gedanken von der Einheit der Schöpfung. Sie belegen die enge Verwandtschaft, die zwischen dem Menschen und seinen tierischen Vorfahren besteht, und die sich bis in Bereiche der Psyche verfolgen lässt.

Bis tief ins 20. Jahrhundert hatten Religion und Philosophie auf einer strikten Trennung zwischen Mensch und Tieren bestanden. Der Abstand zu den unvernünftigen Tieren wurde als derart groß empfunden, dass von irgendwelchen Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tieren nicht die Rede sein konnte. Die einzigartige Stellung, die dem Menschen durch seinen Verstand geschenkt war, wurde von ihm auch als Wertzuspruch – als Höherwertigkeit – aufgefasst. Schon lange vor der Verhaltensforschung entlarvte Siegmund Freud diese Vorstellung als Wunschdenken der menschlichen Eigenliebe, und er sprach von den drei Kränkungen, welche die menschliche Eigenliebe bis in seine Zeit (also vor etwa 100 Jahren) hat hinnehmen müssen.

Als erste Kränkung nannte Freud die Ablösung des geozentrischen durch das heliozentrische Weltbild zur Zeit der Renaissance. Die Erde – und in ihr der Mensch – war von da an nicht mehr Mittelpunkt des Universums.

Die zweite Kränkung erfolgte durch Darwins Evolutionstheorie. Niemals hatte bis dahin ein Zweifel an der unüberbrückbaren Kluft zwischen Mensch und Tieren bestanden. Und so kann man sich die Aufregung und Entrüstung vorstellen, die Darwins „On the origin of species ...“ (1858) hervorrief. Von nun an galt der Mensch als ein Produkt der Evolution – nicht anders als die Tiere auch.

Als dritte Demütigung der menschlichen Eigenliebe bezeichnete Freud seine Entdeckung des menschlichen Unterbewusstseins. Denn damit behauptete er nichts anderes, als dass der Mensch nicht freier Herr seiner Entscheidungen sei. Unser spontanes Verhalten wird wie bei den Tieren von zahlreichen unbewussten Einflüssen und Trieben wie Lust, Sex und Gewalt gesteuert – eine Feststellung, die von der modernen Gehirnforschung noch weiter untermauert worden ist.

Mit jedem dieser Schritte verlor der Mensch etwas mehr von seinem Anspruch, Krone der Schöpfung zu sein.

Vor etwa 20 Jahren kam eine weitere Kränkung hinzu. Richard Dawkins hatte in seinem Buch „The selfish gene“ die Ergebnisse der Genforschung interpretiert und war zu einem Ergebnis gekommen, das den Menschen noch einen Schritt näher an das Tierreich heranrückte. Der Mensch, so Dawkins, verfolgt in seinem Leben nicht selbstbestimmte Ziele, sondern erfüllt wie die Tiere das Programm, das ihm mit seinem Genom vererbt wurde. Hinzu kam der Hinweis auf die erstaunlichen Übereinstimmungen im Erbgut von Mensch und Tieren, z.B. ist das von Maus und Mensch zu 92 Prozent identisch und noch bei Mensch und Fruchtfliege beträgt die Übereinstimmung an 75 Prozent. Auch wenn solche Zahlen nicht absolut genommen werden dürfen und einer umfassenden und differenzierten Interpretation bedürfen, bleibt doch die enge genetische Verwandtschaft des Menschen zum Tierreich ein erstaunliches Phänomen.

Wie schon erwähnt, ging in den letzten Jahrzehnten auch die Verhaltensforschung daran, einen Stein nach dem anderen aus der Mauer zu brechen, die Menschen und Tiere trennte. Hatte man früher geglaubt, die planmäßige Herstellung und Anwendung von Werkzeugen sei allein dem Menschen vorbehalten, so musste man nun akzeptieren, dass nicht nur Affen, sondern auch noch viele andere Tierarten wie z.B. Vögel zur Herstellung und Verwendung von Werkzeugen befähigt sind. Und man erlebte staunend, dass Menschenaffen mit ihren Betreuern mittels Gehörlosensprache zu kommunizieren vermochten, dass sich bei Affen sogar Anfänge von Kulturentwicklung nachweisen lassen und vieles andere mehr – bis hin zu Kriegsführung und planmäßiger Ausrottung benachbarter Sippen, wie sie unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, praktizieren.

Freilich, so verwunderlich ist das alles auch wieder nicht. War es nicht naiv anzunehmen, bei Mensch und Säugetieren gäbe es zwar viele Gemeinsamkeiten im Bereich der Morphologie und Physiologie, die Entfaltung der Psyche und der Intelligenz aber hätte erst mit homo sapiens eingesetzt? Inzwischen ist erwiesen, dass sich die Evolution psychischer Eigenschaften auch bei Wirbeltieren verfolgen lässt und bei Primaten Anfänge einer geistiger Tätigkeit aufscheinen.

Was ist daraus zu folgern? Für den bisher üblichen Umgang mit Tieren besaß die Annahme des Ganz-Anderssein des Tieres eminente Bedeutung. Denn wenn Tiere so so verschieden von uns sind, wenn sie in ihrer Entwicklung soviel niedriger stehen als wir, dann konnte man sie auch entsprechend anders behandeln. Noch im späten 19. Jahrhundert waren die meisten Naturwissenschaftler überzeugt davon, dass Tiere nicht, oder zumindest nicht ähnlich wie der Mensch, leiden können. Hier liegt die Erklärung und Rechtfertigung für viele grausame, überflüssige und heute nicht mehr nachzuvollziehende Tierversuche, die zu Recht mit dem Namen Vivisektion gebrandmarkt wurden. In dem Maße aber, in dem die Grenze zwischen Mensch und Tieren durchlässiger wird und wir viele Gemeinsamkeiten mit den Tieren anerkennen müssen, wird auch die ideologische Begründung für eine Andersbehandlung der Tiere immer fragwürdiger.

Den Tieren gerecht zu werden, heißt nicht, sie zu vermenschlichen oder zu idealisieren. Tiere sind nicht Menschen, und in vielem sind sie anders als wir. Aber es ist zumindest ein Gebot der Fairness, dass wir sie in jenen Fällen, in denen sie nicht anders sind als wir, auch nicht anders behandeln (beispielsweise hinsichtlich der Schmerz- und Leidenfähigkeit). Auch wenn wir uns meist nicht an diesen Grundsatz halten – in den letzten Jahrzehnten sind wir diesem Ziel immerhin ein wenig näher gekommen. Vielleicht werden unsere Nachfahren eines Tages bloß noch mit Kopfschütteln an unseren Umgang mit den Tieren zurückdenken – so, wie wir uns heute nur mit Abscheu an die Grausamkeiten der Sklaverei erinnern können.

Dr. Wolfgang Scharmann

ehem. Bundesgesundheitsamt
Berlin


     Die Redaktion Umwelt, am 15. März 2003 – ugii Homepages –