Umweltpanorama Heft 3 (März 2004) | zur Liste | home | |||
Allergie ein Schicksal aus Lebensstil oder Veranlagung? Betrachtung aus psychosomatischer Sicht |
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Nach dem psychosomatischen Verständnis, so wie es im Gelsenkirchener Behandlungsverfahren gelehrt wird, sind allergische Krankheiten grundsätzlich zu heilen, wie die Spontanheilung = Selbstheilung beweist (spontan von lat. spontaneus: aus eigener Kraft, von innen heraus, selbst). Menschen verlieren ihre allergische Krankheit, unter Umständen lebenslang. Die genetische Disposition bezieht sich also nur auf ein erhöhtes Risiko, an allergischen Krankheiten erkranken zu können. Sie steht einer Heilung keineswegs entgegen. Die Spontanheilung = Selbstheilung macht zudem deutlich, dass die Umweltbelastung keinen entscheidenden Einfluss haben kann; sie muss sekundärer Natur sein, denn der spontan Geheilte toleriert ja anschließend wieder seine Umwelt, seine Allergene, auf die er zuvor mit Krankheit reagiert hat. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass kein Zusammenhang gefunden wurde zwischen der Gesamt-Allergen-Belastung und beispielsweise dem Auftreten eines allergischen Asthmas 1). Auch die Umweltbelastung konnte nicht als Ursache von Asthma, Neurodermitis, allergischem Schnupfen bestätigt werden, was die so genannten ISAAC Studie 2) belegte. Die ISAAC Studie an über 460 000 Kindern aus 56 Ländern hat ergeben, dass Asthma, Neurodermitis, allergischer Schnupfen nur in Ländern mit westlichem Lebensstil vermehrt auftreten. Die allergischen Krankheiten haben also etwas mit der Art zu tun, wie eine Gesellschaft lebt. Aus psychosomatischer Sicht beinhaltet der western lifestyle vor allem Stress und Überforderung.
Der Betroffene glaubt, in einer derartigen Situation nicht handeln zu können. Er hat ein Problem, das er (tatsächlich oder scheinbar) nicht lösen kann. Deshalb baut er seinen anflutenden, immensen Druck nicht durch Angriff oder Flucht (also durch aktive Entscheidung) ab. Der so entstehende unkontrollierbare Stress und die einweißhaltige Substanz werden zeitgleich vom Gehirn wahrgenommen, konditioniert und im Langzeitgedächtnis gespeichert. Die eiweißhaltige Substanz, aus Pollen, Tierschuppen oder Nahrungsmittel, ist jetzt zum Allergen geworden, weil sie bei künftigem Kontakt das Gehirn an das traumatische Ereignis erinnert. Die körperliche Abwehrreaktion wird vermittels Amygdala und Hypothalamus 3) über das vegetative Nervensystem, Stresshormone und Peptide (kleine Eiweiße) auslöst. Allergische Krankheiten sind somit echte psychosomatische Leiden, deren überempfindliche Organreaktion und Entzündung zentral, vom Gehirn über das vegetative Nervensystem und den Blutweg bedingt sind.
Solange der Betroffene unter Stress steht, hat er so unglaublich es klingt keine Beschwerden. Sichtbar werden die allergischen Symptome erst, wenn der Stress abfällt, das heißt, wenn die Sympathikotonie des vegetativen Nervensystems in die Vagotonie umschlägt:
Was macht der Allergiekranke in einer derartigen Situation? Ganz einfach, er erzeugt wieder Stress, indem er als Medikament Stresshormone (Sympathomimetika) zu sich nimmt und somit seine Symptome coupiert. Erst wenn der Betroffene den zweizeitigen Verlauf seiner Krankheit kennt, kann er sich seine Allergie erklären.
Im Leben sind Situationen bekannt, in denen Allergien selten in Erscheinung treten. Das sind zum Einen Auslandsaufenthalt, Krieg, falls der Betroffene dadurch auf einem höheren Stressniveau lebt. Eine derartige Situation ahmt der Kranke gewissermaßen nach, wenn er sich durch regelmäßige tägliche Einnahme von Sympathomimetikum wie Kortison medikamentös chronisch unter Stress setzt. Zum Anderen ist es der Urlaub, in dem der Betroffene derartig entspannt ist, dass nennenswerte Stressanstiege und -abfälle (sie sind für die Beschwerden verantwortlich) nicht stattfinden. Unklar ist, weshalb der eine Mensch auf ein Allergen mit Asthma, ein anderer mit Neurodermitis oder einer anderen Organmanifestation reagiert. Auch hier liefert die Psychosomatik eine Erklärungsmöglichkeit:
So wie der Mensch auf Schrecken mit Muskelstarre reagiert, führt ein Trennungserlebnis zur Hautreaktion, wenn etwas gegen den Willen geschieht zur bronchialen Reaktion und wenn man verschnupft reagiert zu Nasenproblemen allerdings nur, wenn gleichzeitig unkontrollierbarer Stress provoziert wird. Die moderne Gesellschaft tut sich schwer mit Gefühl und Stress. Wieso soll ein Säugling schon Stress, geschweige denn Gefühle haben? Es geht ihm doch gut. Nach Ansicht der Gesellschaft wird das heutige Leben überwiegend durch logische Überlegungen und rationale Entscheidungen bestimmt, nach dem Leitsatz: ich denke, also bin ich. Wenn der Mensch auf die Welt kommt, gibt es erst das Sein und Fühlen, das logische Denken erlernt er erst später. Der Leitsatz lautet besser: ich fühle und deshalb denke ich und also bin ich. Der Mensch reagiert noch so wie seine Vorfahren in der Steinzeit vorwiegend unbewusst. Der Grund für dieses Verhalten, das zirka 80 Prozent seines täglichen Lebens ausmacht, ist die Dominanz von Stammhirn und Zwischenhirn 3), in denen ein Großteil der Gefühle, die instinktiven Reaktionen gebildet und die körpereigenen Immun-, Abwehrmechanismen übergeordnet gesteuert und koordiniert werden. Wenn bei einem neurodermitiskranken Säugling nach einem Trennungstrauma als Ursache seiner Krankheit gefahndet wird, stößt man zunächst auf Ablehnung. Bei gezieltem Nachfragen kann aber jede Mutter über Erlebnisse berichten, die sie nach ihrer Schwangerschaft gehabt hat und die ihr als besonders traumatisch in Erinnerung geblieben sind. Beispiele sind Kaiserschnitt, Abstillen, Trennung vom Partner, Abgabe des Säuglings an die Großeltern, frühzeitiges außerhäusiges Arbeiten der Kontaktperson, Umzug in eine neue Umgebung. Das besondere an den erinnerten Situationen, die viele Menschen durchleben ohne krank zu werden, ist das sie begleitende Gefühl des Getrenntseins von dem Kind, Partner oder einem Ort, Objekt. Dieses Gefühl der Mutter wird ausgelöst beziehungsweise begleitet durch die besonders heftige Reaktion ihres Säuglings. Eine Minderheit reagiert in einer derartigen belastenden Situation gar nicht, was Befremden bei der Kontaktperson hervorruft. Das Gefühl des Getrenntseins von Mutter oder Vater, der gewohnten beschützenden Umgebung kann dem Säugling als bedrohlich, nicht bewältigbar, unlösbar und endgültig erscheinen und Angst auslösen, die er in seinem Verhalten zeigt oder unterdrückt. So kann unkontrollierbarer Stress und darüber Krankheit entstehen (ein so genannter biologischer Konflikt). Ein traumatisches Erlebnis beeinflusst das künftige Verhalten des Betroffenen. Folglich müsste ein Neurodermitiskranker trennungsempfindlich, trennungsängstlich sein. Dies konnte auch bei erkrankten neurodermitischen Kindern statistisch signifikant bestätigt werden. Mit Fortbestehen der allergischen Krankheit wird die Situation, die Symptome hervorruft, immer unspezifischer. Hinterher genügt sogar Stress, der durch Freude ausgelöst wird, um Symptome zu provozieren. Ein Beispiel dafür ist der Kindergeburtstag. Der Betroffene, der nach dem geschilderten Vorgang eine Allergie erwirbt, trägt daran ebenso wenig Schuld wie seine Eltern. Sein gesundes Gehirn hatte nicht den Hauch einer Chance, das Trauma, das ihn vorwiegend auf der unbewussten Ebene trifft, zu verhindern. Erschwerend kommt hinzu, dass der Betroffene nicht weiß, was geschehen ist; denn seine Symptome treten erst zu einem Zeitpunkt auf, an dem das Stresserlebnis längst vorüber ist und deshalb gelten traumatische Erlebnisse nicht als Ursache der Allergien. Durch das Leid, das allergische Krankheiten wie Asthma, Neurodermitis, Rhinokonjunktivitis verursachen, werden auch die gesunden Angehörigen mit in das Geschehen hineingezogen. Sie versuchen durch vermehrte Zuwendung, das Leiden des Betroffenen zu bessern. Im Gegensatz zu der akuten Krankheit führt Zuwendung bei der chronischen Krankheit leider zu einer Verstärkung und Fixierung des Leidens. Das liegt an der Funktionsweise des Zwischenhirns, das Verhaltensweisen wie Kratzen, Husten oder Niesen, falls sie beachtet werden, unbewusst verstärkt und wiederholt auslöst. Die zugrunde liegende Frage Allergie ein Schicksal aus Lebensstil oder Veranlagung? ist aus psychosomatischer Sicht wie folgt zu beantworten:
Der Allergiekranke lernt, sich an bestimmte Stressoren zu gewöhnen. Dies geschieht zum einen durch Herabsetzung seines Lebensstress mittels entspannende Verfahren und zum anderen dadurch, indem er sich der traumatischen Situation, die ihn hat krank werden lassen, stellt und sie aktiv verarbeitet; ein Beispiel wäre die Überwindung der Trennungsangst bei der Neurodermitis durch ein Trennungs-Bindungs-Training. Kommt danach der Betroffene in Kontakt mit einem Allergen, so löst es über das Gehirn keine Abwehrreaktion und somit auch keine Beschwerden mehr aus. Die Kinderklinik Gelsenkirchen hat diese, die Autonomie des Betroffenen stärkende und das Verhalten verändernde psychosomatische Vorgehensweise, im Verlauf der letzten 20 Jahre entwickelt und führt sie erfolgreich durch. Ziel ist ein Leben in Gesundheit bei hoher Lebensqualität, frei von Allergie und Einnahme von Medikamenten, das auch zahlreiche Betroffene erreichen. Hirnforschung, Psycho-Neuro-Immunologie sowie die evolutionspsychologische Erkenntnis, dass es für alle Menschen kulturunabhängige psychologische Grund- und Verhaltensmuster gibt, haben der Psychosomatik ein dermaßen wissenschaftlich fundiertes Wissen über allergische Krankheiten beschert, dass die Selbstheilung ähnlich der Lösung einer Aufgabe, deren Einzelfaktoren bekannt sind, mit mathematischer Genauigkeit betrieben werden kann.
Prof. Dr. Ernst August Stemmann, Arzt für Kinderheilkunde, Allergologie (Kontakt), Anmerkungen 1) Dieser Zusammenhang war einer der Ergebnisse aus dem Jahre 2000, der in Deutschland durchgeführten Multicentre Allergy Study (MAS). Diese Studie verfolgt bundesweit Kinder seit ihrer Geburt im Jahre 1990. Die Studie wird von mehreren Universitätskliniken durchgeführt. 2) Nach den Ergebnissen der ISAAC-Studie (The International Study of Asthma and Allergies in Childhood) aus dem Jahre 1998, bei der das Vorkommen von Allergien und Asthma im Kindesalter weltweit untersucht wurde, liegt bezogen auf Westeuropa Deutschland hinter Spitzenreiter Großbritannien bereits an dritter Stelle der Statistik. Für Deutschland wird die ISAAC-Studie vom Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin der Universität Münster geleitet. 3) Das Amygdala gehört dem so genannten limbischen System an. Das limbische System ist die dem Hypothalamus (Teil des Zwischenhirns) direkt übergeordnete Zentrale des hormonalen und vegetativ-nervösen Regulationssystems im Großhirn. |
Die Redaktion Umwelt, am 1. März 2004 | ugii Homepages |