Umweltpanorama Heft 3 (März 2004) zur Liste | home

Allergie und Lebensstil

Im Jahre 1992 habe ich aufgehört als Kinderärztin in einer großen Berliner Gemeinschaftspraxis zu arbeiten. Das hatte mehrere Gründe: elf gemeinsame Arbeitsjahre hatten mich von meiner Freundin und Kollegin immer weiter entfernt, wir hatten verschiedene Ansichten über die Behandlung und Heilbarkeit von Krankheiten, wir benutzten unterschiedliche Medikamente und wir entwickelten sehr konträre Haltungen. Von ihr wurden Diagnosen sehr rasch gestellt, was oft notwendig und entlastend ist, manchmal jedoch Patienten in große Not, Ängste und Unsicherheit stürzen kann. Ich war eher abwartend, zuhörend, weniger eingreifend und bestimmend. Ihr Vorgehen ist erforderlich bei jeder akuten Krankheit, die schnelles Handeln verlangt. Meines ist gefragt bei chronischen Erkrankungen und bei den vielen Zuständen, in denen Patienten weder gesund noch krank sind. Und von diesen Patienten gab und gibt es immer mehr. Der unterschiedliche Arbeitsstil war in unserer gemeinsamen Praxis nicht vereinbar und führte zur Trennung. Ich begab mich auf die Suche, da mir die schulmedizinische Ausbildung mit ihren Behandlungsmöglichkeiten nicht mehr reichte.

Antibiotika, Antiallergika, Antidepressiva, Antipyretika, Antitussiva, Antirheumatika ... anti, anti, anti – Kampf den Krankheiten. Nach der Weltgesundheitsorganisation WHO ist Gesundheit nicht die Abwesenheit von Krankheit, sondern körperliches, seelisches und geistiges Wohlbefinden. Ich machte eine Ausbildung in Naturheilkunde, Bewegungs- und Tanztherapie, lernte Autogenes Training und besuchte Kurse und Seminare für psychosomatische Medizin, Mikrobiologie und Homöopathie. Ich hospitierte in der Städtischen Kinderklinik in Gelsenkirchen bei Professor Stemmann, dessen Arbeitsansatz meine weitere Arbeit sehr geprägt hat.

Mit diesen vielen neuen Anregungen ausgestattet übernahm ich 1992 eine kleine Kinderarztpraxis. Ich hatte weniger Patienten, aber mehr Zeit für sie: Ich erhob ausführliche Anamnesen, in denen nicht nur die Krankheitsgeschichte des Kindes eine Rolle spielte, sondern die Lebensumstände der ganzen Familie.

Ein Beispiel

Die Brüder Max und Paul lernte ich schon im Jahre 1993 kennen: sie waren damals zwei und sechs Jahre alt. Max war ständig erkältet und Paul hustete Tag und Nacht. Vom Krankenhaus war eine Diagnostik durchgeführt worden, die Diagnose für Max lautete hyperreagibles Bronchialsystem und für Paul Asthma bronchiale bei familiärer Belastung. Die Mutter hatte Heuschnupfen und Ekzeme und litt unter ständigen Kopfschmerzen, was auf eine chronische Entzündung der Nasennebenhöhlen zurückgeführt wurde. Der Vater war gesund. Beide Eltern waren berufstätig.

Die Kinder mussten mehrmals am Tag mit verschiedenen Medikamenten inhalieren – auf unbestimmte Zeit. Die Mutter wollte sich mit der Diagnose und vor allem mit der, die ganze Familie belastenden Therapie nicht abfinden und bat um eine Behandlung mit Naturheilverfahren. Ihre Vorstellung war es, dass die Kinder jetzt pflanzliche oder homöopathische Medikamente erhalten sollten, um ihre Gesundheit wiederherzustellen. Deswegen erhielten die Kinder zunächst auch pflanzliche Medikamente, aber es würde nicht ausreichen, die allopathischen Präparate nur durch pflanzliche Präparate zu ersetzen.

Zu dieser Zeit hatte ich ein Plakat mit folgenden Stichpunkten aufgehängt:


Der maßvolle Gebrauch von Speise und Trank
Der Rhythmus von Bewegung und Ruhe, sowie Arbeit und Freizeit
Der Wechsel von Schlafen und Wachen
Der geordnete Umgang mit Licht, Luft, Wasser, Wärme, Kälte
Das Gleichgewicht von Aufnahme und Ausscheidungen
Das Wahrnehmen und Beherrschen von Gefühlen

(Sigrid Das)

Wir haben zu Beginn der Behandlung ausführlich über diese sechs Punkte gesprochen, was die Eltern zu vielfältigen Veränderungen ihres Lebensstils und ihrer Gewohnheiten angeregt hat. „Sie haben unser ganzes Leben verändert“, sagte Frau R. nach Jahren einmal zu mir. Doch nicht ich hatte es verändert, ich hatte nur Vorschläge gemacht und Anregungen gegeben.

Parallel zu diesen Veränderungen konnte ich mit der naturheilkundlichen Behandlung beginnen: Da beide Kinder sehr viele Antibiotika bekommen hatten, erhielten beide eine mikrobiologische Therapie, um die gestörte Darmflora wieder aufzubauen. Dieses war nur sinnvoll im Zusammenhang mit einer Ernährungsumstellung. Die Inhalationstherapie wurde nur sehr langsam reduziert und erst nach Monaten beendet, nachdem die Familie vieles an ihren Lebensgewohnheiten verändert hatte.

Die Familie hatte die Ernährung umgestellt und war im Umgang mit Haushaltsmitteln, Kosmetika und Hygieneartikeln kritischer. Die Eltern hatten Autogenes Training gelernt und aufgehört zu rauchen. Der Vater machte mit dem größeren Kind ein Lauftraining. Beide Kinder mussten an deutlich weniger Freizeitaktivitäten teilnehmen, wodurch Frau R. mehr Zeit für sich, die Kinder und für ihren Mann hatte. Ihre Kopfschmerzen ließen nach, die Heuschnupfenattacken waren weniger häufig und heftig.

Als wir uns vor elf Jahren kennen lernten, war Frau R. oft übermüdet, angespannt und gestresst, was für eine berufstätige Frau mit zwei Kindern eher die Regel als die Ausnahme ist. Heute kommt sie mir lächelnd entgegen und entschuldigt sich fast, dass sie nicht mehr so oft mit ihren Kindern in die Praxis kommt.

Natürlich sind die Kinder jetzt auch elf Jahre älter geworden, und man könnte sagen „aus ihren Krankheiten rausgewachsen“. Auch die Mutter ist elf Jahre älter geworden, doch bei ihr kann man nicht sagen, dass sie aus ihren Krankheiten „rausgewachsen“ ist. Aber aus einer „abhängigen“ Patientin ist sie zu einer sehr sicheren und selbstbewussten Mutter geworden, die sich mit mehr Ruhe und Gelassenheit ihren Kindern widmen kann.

Verhaltensstrategien

In den letzten zwanzig Jahren hat ein Wandel von Krankheiten stattgefunden. Natürlich gibt es weiterhin Erkrankungen, die durch Viren, Bakterien und Parasiten hervorgerufen werden. Doch es gibt noch wesentlich mehr Belastungen für das Immunsystem, die zu chronischen Erkrankungen und zu diffusen Gesundheitsstörungen führen. Sind die Ernährung, die Umwelt, die Arbeitslosigkeit, die Beziehungslosigkeit und der Stress schuld daran?

Abwehrbelastung

Belastungen des Immunsystems nach der Städtischen Kinderklinik Gelsenkirchen

Eine der Krankheiten, die aus diesen Belastungen resultieren kann, ist die Neurodermitis. Die Neurodermitis oder atopische Dermatitis oder endogenes Ekzem ist eine chronische oder rezidivierende Erkrankung besonders von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Sie zeigt sich in stark juckenden Ekzemen. Sie ist zum Teil genetisch bedingt und wird durch innere und äußere Faktoren ausgelöst, verschlimmert und unterhalten. Eine Reihe von immunologischen Veränderungen sind oft, aber nicht immer nachweisbar.

In den vergangenen Jahren habe ich zusammen mit einer naturheilkundlich arbeitenden Kollegin Wochenendseminare für Eltern betroffener Kinder mit dem Titel „Raue Schale – weicher Kern“ durchgeführt, weil eine zufriedenstellende Erfassung der Problematik der Neurodermitis im Praxisalltag nicht möglich war. Wir informierten die Eltern über das Wesen und den Verlauf der Neurodermitis, um ihnen Angst, Unsicherheit und Schuldgefühle zu nehmen. Wir klärten sie über die verschiedenen Stadien der Neurodermitis und deren Lokalbehandlung auf, damit sie mehr Sicherheit erlangten. Doch es stellte sich heraus, dass es den Eltern viel wichtiger war, mehr Kompetenz als in der Lokalbehandlung im Umgang mit dem eigenen Verhalten und mit den Gefühlen und den Äußerungen ihrer Kinder zu erlangen. Wir erarbeiteten mit den Eltern Verhaltensstrategien wie

  • klar, eindeutig und zuverlässig sein,
  • Grenzen aufzeigen und Abgrenzung zulassen,
  • das Kind altersgemäß Verantwortung übernehmen lassen,
  • das Kind Gefühle erleben lassen und sich nicht mit vielleicht falschem Trost einmischen, wie „sei nicht traurig, wenn Trauer angesagt ist“,
  • Zulassen, dass das Kind anders ist,
  • Schuld abbauen
  • und anderes mehr ...

Ein wichtiger Teil unseres Seminars war das Autogene Training, das man nicht an einem Wochenende lernen kann, aber zu dem wir allen Eltern geraten haben. Da Stress bei fast allen Betroffenen eine Rolle spielt, ist das eine einfach und schnell zu lernende Methode, um Stress abzubauen. Und so erhielt ich auch oft die Rückkopplung, dass alles besser ging, wenn die Eltern Autogenes Training oder eine andere Entspannungsmethode gelernt hatten.

Definitionen

Die Allergie ist eine Krankheit des ganzen Menschen in Körper, Geist und Seele. Solange der seelische Aspekt, der sich im Fühlen, Denken, Handeln, sich miteinander verhalten ausdrückt, nicht in die Diagnostik und Therapie eingeschlossen wird ,wird die Allergie die körperlich sichtbar und fühlbar ist, ein ungelöstes Problem bleiben, das den Patienten von Arzt zu Arzt führt. Was es heißt, allergisch zu sein, hatte Cordula Schliephake, anlässlich der Mahlower Naturheiltage 1993, so formuliert:

„Allergisch sein heißt, überempfindlich auf Substanzen in Nahrungs- und Genussmitteln, in Reinigungs- und Pflegemitteln, in Kleidungsstücken zu reagieren. Befriedigung und Wohlbefinden durch schneller, lauter, bunter, süßer, billiger, teurer, luxuriöser, oberflächlicher, überall gewesen zu sein, alles gesehen zu haben, mehr und immer mehr gibt es für den Allergiker nicht, im Gegenteil, das alles macht ihn krank.

Allergisch sein bedeutet für den erkrankten Menschen, sich erst einmal zurückziehen müssen aus dem bunten Treiben und fühlen, wie er auf das alles reagiert. Sich zurückziehen, um zu sich zu finden.

Allergisch sein heißt, auf Reize aus der Umgebung überempfindlich sein und gibt Gelegenheit, alles, was man bisher für notwendig und selbstverständlich hielt, in Frage zu stellen.“

Lebensweise

Der Wandel der Krankheiten hat viel mit unserem Lebensstil zu tun. Wir essen zu viel, zu süß, zu fett ,zu eiweißreich, wir rauchen und trinken. Bei Beschwerden greifen wir sofort zur Tablette: Schmerzmittel gegen Schmerzen, Beruhigungsmittel gegen Unruhe, Schlafmittel gegen Schlaflosigkeit, fiebersenkende Mittel gegen Fieber, Hustenblocker gegen Husten. Abführmittel gegen Verstopfung, Stopfmittel gegen Durchfall. Die Reihe lässt sich noch weiter fortführen.

Wir sind Stubenhocker, die zuerst den Fahrstuhl und dann das Auto benutzen, um zur Arbeit zu gehen, die Kinder werden im Auto angeschnallt in Kindergarten und Schule gefahren und nach einem anstrengenden Arbeitstag setzen wir uns bequem vor den Fernseher und lassen uns berieseln. Wir bewegen uns zu wenig und finden selten Ruhe und Entspannung. Bewegungsmangel, quälende Gedanken und Sorgen lassen uns oft nicht schlafen, so dass wir am nächsten Tag müde und unausgeruht zur Arbeit gehen.

Es gibt aber auch gesellschaftliche Gründe für die Entstehung von Krankheiten, auf die wir als einzelner – und auch als Arzt – weniger Einfluss haben, als auf unser persönliches Umfeld. Beispiele dafür wären die erhöhte Arbeitsproduktion, die Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen, Mobbing am Arbeitsplatz.

Das macht uns irgendwann krank. Viele der daraus resultierenden Beschwerden und Krankheiten sind durch die moderne Medizin nur unzureichend zu beeinflussen, weil sie durch falsche Verhaltensweisen hervorgerufen werden. Es ist die Aufgabe des Arztes, die krankmachende Lebensweise jedes einzelnen Patienten zu erkennen, ihn aufmerksam zu machen, damit jeder einzelne seine Lebensgewohnheiten überdenken und verändern kann. Und das ist sehr viel schwerer, als zur Tablette zu greifen.

Die Entstehung von Krankheiten ist nicht von unserer Lebensweise zu trennen – und dabei spielt Stress eine zentrale Rolle. Ursprünglich ist Stress eine lebensnotwendige Reaktion, um auf Belastung schnell zu reagieren. Die Bedeutung des Begriffes hat sich heute gewandelt. „Wir fühlen uns gestresst“ heißt: Wir fühlen uns ständig unter Druck durch verschiedenste Belastungen des täglichen Lebens. Das setzt unsere Reizschwelle herab und macht uns durchlässiger für krankmachende Substanzen und für kränkende Situationen.

Bei einer chronischen Erkrankung kann das gesamte Umfeld die Krankheit beeinflussen – deswegen ist neben der medikamentösen Therapie die Veränderung des Lebensstils so wichtig, auch bei einer Allergie.

In den letzten 10 Jahren habe ich eine für mich sehr befriedigende Arbeitsform gefunden. Es ist eine Verbindung von Zuhören, Wahrnehmen, Sprechen, körperlicher Untersuchung mit der modernen Medizin. Und die moderne Medizin ist für mich sowohl Schulmedizin als auch Naturheilverfahren oder Homöopathie oder andere „alternativen“ Therapieformen. Das habe ich für viele Patienten und für mich als Bereicherung empfunden.

Dr. Andrea Loebell-Buch

Kinderärztin
Berlin


Literatur zum Thema

Stellvertretend für viele andere Literatur möchte ich den Lesern das Buch von Sigrid Das empfehlen:

Dr. med. Sigrid Das, Ohne Inweltentgiftung keine ganzheitliche Therapie – Anthropo-ökologische Grundlagen der neuen Heilkunde, Johannes Sonntag Verlagsbuchhandlung, Regensburg 1989, mit zahlreichen Tabellen und Abbildungen, 408 Seiten

Anmerkung der Redaktion: Im „Verzeichnis der Lieferbaren Bücher“ (VLB, Internet: http://www.buchhandel.de/) sind nur noch neuere Bücher der Autorin Sigrid Das verzeichnet. Sie haben jedoch noch die Möglichkeit, das Buch online antiquarisch zu bestellen (Antiquario, Prolibri oder ZVAB) oder vielleicht hat es sogar Ihr Antiquariat um die Ecke.



 

     Die Redaktion Umwelt, am 1. März 2004 – ugii Homepages –