Umweltpanorama Heft 2 (Dezember 2003) zur Liste | home

Etymologie des Abfalls

Dreck, Unrat und Kehricht – wie soll man da ins Reine kommen

Wenn wir uns heute dem Begriff „Abfall“ nähern, stoßen wir unwillkürlich auf einen fundamentalem Widerspruch, der in unserer Gesellschaft entstanden ist. Auf der einen Seite die nebligen Definitionen, die uns den Abfall durch Begriffe wie Abfallvermeidung und -verwertung positiv zu besetzen versuchen, und auf der anderen Seite laufen wir mit einem umgangssprachlichen Verständnis durch die Welt, das widersprüchlicher nicht sein könnte: Abfall als Dreck, Müll oder sogar Abschaum.

Ein Standardwerk über Abfallwirtschaft *) beginnt wie folgt: „Schon zirka 8000 bis 9000 Jahre vor unserer Zeitrechnung haben Menschen gelernt, ihre Abfälle außerhalb ihrer Ansiedlungen abzulagern.“

So kommt Ehrfurcht und ein Gefühl der Beruhigung auf: „Abfall ist im Prinzip so alt wie die Menschheit selbst“. Ist das so richtig gedacht? Mit dieser einfachen Frage begibt man sich auf einem sehr alten Pfad, der sich zu keiner Zeit als Holzweg erwiesen hat. Dazu zwei Thesen:

  • Natur ist ein Kommen und Gehen, ein Entstehen, Wachsen und Vergehen, und zwar immer aus sich heraus. Das Eine ist Grund für das Andere und umgekehrt. Es gibt keine Substanz, die an sich unzugehörig ist. Das entspricht der inneren Vernunft der Natur.
  • Natur kennt keinen Abfall. Abfall ist Trennung von der Natur und steht demzufolge im Widerspruch zur inneren Vernunft der Natur.

Es wäre jetzt ein anderes Thema, darüber zu spekulieren, ob sich die Menschen zu jener Zeit ob dieses folgenreichen Schrittes bewusst waren. Nein - wichtig ist nur, dass es Menschen gewesen sind, die mittels ihrer Sprache einen Begriff für nicht mehr Verwendbares gefunden und darüber ein Verhalten entwickelt haben, das bisweilen auch für unsere Tage symptomatisch ist: „Aus den Augen – aus dem Sinn.“ Diesem Prinzip folgt eine Gesellschaft, die „Trennungsarbeit“ nicht leisten kann. Abfall ist Trennung, und Trennung ist ein Vorgang, der oft mit Trauer verbunden ist.

Die Tücke der Worte

„Die Welt ist alles, was der Fall ist“, so beginnt der sprachanalytische Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) sein einziges, zu seinen Lebzeiten veröffentlichtes Werk „Tractatus logico philosophicus“.

Der Fall, also das Hauptwort „Fall“, das in Wittgensteins philosophischem Paukenschlag die zentrale Bedeutung einnimmt, zeigt bereits eine Schwierigkeit, mit der wir es in der Umgangssprache immer wieder zu tun haben: nämlich die Bedeutung und insbesondere Bedeutungsvielfalt von Worten. Es lohnt, den Fall des Falles näher zu beleuchten, zumal es sich dabei auch um das Stammwort von Abfall handelt. „Was also ist der Fall?“

  • Das Fallen (vom Himmel),
  • die Kennzeichnung (ein hoffnungsloser Fall),
  • der Tatbestand (ein Fall für den Staatsanwalt) und weiter
  • Fälle von schweren Vergiftungen oder
  • grammatikalisch: nach wegen steht der 2. Fall.

Und dann die präfixiven Ableitungen des Falls von A bis Z: Anfall, Beifall, Einfall, Freifall, ... Unfall, Vorfall, Wegfall und Zufall!

Wenn wir den Umgang mit Abfall sprachlich betrachten, so sind uns folgende Sätze als Abbildungen eines Sachverhaltes eigentlich nichts Neues: Wir sammeln, trennen, sortieren, behandeln oder speichern Abfall etc.

In sprachlicher Analogie zum bekannten und eingeübten Umgang mit Abfall agieren wir in Bereichen der „praktischen Philosophie“:

  • Wir sammeln, sortieren und speichern im Denken, Sprechen und Handeln (als ständige Lernprozesse).

Oder in Redewendungen, umgangssprachliche Querverbindungen oder metaphorische Assoziationen:

  • „Ordne/sortiere erst einmal deine Gedanken“, „ein wohlsortierter Kopf“,
  • „in deinem Kopf steckt doch nur Müll“, „Red nicht so viel Müll“ usw., wobei die Sprachfetzen
  • „es gärt (in meinem Kopf)“ und „die Verbrennung“ eigentlich auf den „Abfall-, Müll- oder Scherbenhaufen der Geschichte“ gehören.

Der Satz „Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft.“ beschreibt den moralischen Zustand einer sich selbst entfremdeten Gesellschaft, die ihre Probleme nicht mehr verwertet, das heißt in den Lebenskreislauf zurückführt und verarbeitet, sondern nur noch als Ballast über Bord werfen kann. Die Ex-und-hopp- und Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Mentalität entspricht einem Zustand der Kulturlosigkeit, in der jegliche „Trennungsarbeit“ durch Kompensations- und Tauschgeschäfte materiell eingelöst wird.

Dr. Hans-Joachim Bretschneider

freier Autor
Berlin

 

*) Bilitewski, Härdtle, Marek: Abfallwirtschaft, 2. Auflage, Springer Verlag, Berlin 1994

 

     Die Redaktion Umwelt, am 15. Dezember 2003 – ugii Homepages –